"In Russland fühle ich mich geborgen - und unsicher"

©Sabine Stamer
Palina Rojinski kam in St. Petersburg zur Welt, Zur Fußball-WM berichtet sie aus Russland. Mit welchen Gefühlen fährt sie in das Land? Für Spiegel Online
Spiegel Online
08.06.2018
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SPIEGEL ONLINE: Für eine mehrteilige Reportage haben Sie die Spielorte der WM bereist. Wie haben Sie Russland erlebt?

Rojinski: Nachdem wir ausgewandert waren, habe ich jedes Jahr meine Großeltern in St. Petersburg besucht. Aber ich war noch nie so lange am Stück in Russland und bin dort noch nie so weit herumgekommen. In Russland fühle ich mich einerseits total geborgen und andererseits total unsicher. Man weiß nie, was einem passiert.

SPIEGEL ONLINE: Was könnte denn passieren?

Rojinski: Ich weiß es nicht. Vielleicht ist das noch ein Gefühl aus der alten Sowjetunion. Meine Mutter hat immer Theater gemacht bei der Ein- und Ausreise, die Grenzkontrolle versetzte sie jedes Mal in Angst und Schrecken. Man war auch nach 1991 nie sicher, ob man ins Land rein- oder rauskommt, auch wenn man nichts angestellt und alle Dokumente hatte.

SPIEGEL ONLINE: Es gibt Repressalien gegen Regierungskritiker und Homosexuelle. Beschäftigt Sie das auch? Der ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt hat wegen seiner Berichterstattung zunächst kein Visum bekommen.

Rojinski: Natürlich beschäftigt mich das. Und es beschäftigt auch viele Russen. Viele finden zum Beispiel die Diskriminierung von Homosexuellen furchtbar. Und ich habe das Gefühl, dass diese Seite Russlands, die weltoffene tolerante Seite, sehr wenig Raum in der Berichterstattung erhält. Ich glaube, dass es ein Fehler ist, die Russen in einen Topf zu werfen und das Klischee der Rückständigkeit aufrecht zu erhalten. Deswegen finde ich meine Aufgabe, "Land und Leute" zu zeigen, so toll. Ich kann ein Bild von Russland wiedergeben, das viele hier in Deutschland nicht erwarten. Und damit vielleicht einen kleinen Teil dazu beitragen, dass nicht nur in Klischees gedacht wird.

SPIEGEL ONLINE: Das Verhältnis zwischen westlichen Staaten und Russland hat sich zuletzt verschlechtert. Machen sich diese politischen Beziehungsstörungen in Ihrem persönlichen Alltag bemerkbar?

Rojinski: Ich habe nicht bemerkt, dass sich etwas großartig verändert hätte. Mir selbst hört man nicht an, woher ich stamme, aber meine Eltern sprechen mit russischem Akzent. Als wir damals hier angekommen sind, haben manche uns sofort geholfen und andere haben uns zurückgewiesen. So ist das geblieben. Nach wie vor reagieren die Leute aber eher positiv und neugierig, wenn sie hören, dass ich gebürtige Russin bin.

SPIEGEL ONLINE: Fühlen Sie sich noch russisch?

Rojinski: Es ist ein Teil von mir, aber ich könnte niemals dort leben. Deutschland ist so ein tolles Land! Ich mag es, dass hier im Vergleich zu Russland Recht und Ordnung herrschen.

SPIEGEL ONLINE: Wie meinen Sie das?

Rojinski: Hier werden die Dinge effizient und qualitativ hochwertig erledigt. In Russland dauert alles ewig. Wenn dort eine Straße repariert wird, dann so, dass Sie in sechs Monaten wieder kaputt ist und neu gemacht werden muss. Das ist in Deutschland ganz anders. Wobei der Flughafen BER oder Stuttgart 21 haben schon Russlandniveau.

SPIEGEL ONLINE: Sie machen eigentlich nicht gerade den Eindruck, als würden Sie unbedingt auf Ordnung pochen.

Rojinski: In gewissen Situationen nicht, das stimmt. Wir sind zum Beispiel mit der Transsibirischen Eisenbahn von Samara nach Jekaterinburg gefahren. In den Zügen herrscht inzwischen Alkoholverbot, aber niemand hält sich daran. Jeder schmuggelt Alkohol, zum Teil Selbstgebranntes in Plastikflaschen. Abends wird getauscht, ob Schnaps, Tee oder Würstchen. Da lernt man schnell den ganzen Waggon kennen. Was soll man denn auch sonst tun auf so einer Reise? Wir hatten eine sehr lustige Fahrt.

SPIEGEL ONLINE: Gab es Überraschungen auf der Tour durchs Land?

Rojinski: Überraschungen eigentlich nicht, aber mir ist unter anderem aufgefallen, dass die Menschen in Russland besser zusammenhalten. Man ist füreinander da, bietet Älteren und Schwangeren selbstverständlich den eigenen Sitzplatz an. Ein russischer Mann nimmt einer Frau die vollen Einkaufstüten ab, hält die Tür auf.

SPIEGEL ONLINE: Ist Ihnen so etwas denn wichtig? Sie hören gern Hip-Hop. Die Texte rufen nicht gerade zu guten Manieren auf.

Rojinski: Es gibt ja unterschiedlichen Hip-Hop und Rap. Provokation generell ist eigentlich ein tolles Stilmittel. Sie ist nützlich, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Aber in vielen Texten wird provoziert, um des Provozierens Willen. Das ist sehr pubertär.

SPIEGEL ONLINE: Stichwort Battle-Rap. Seit der Echo-Verleihung an Kollegah und Farid Bang gibt es massive Kritik am Antisemitismus im Rap. Sie wurden christlich-orthodox getauft. Ihr Vater ist jüdisch. Trifft Sie die Debatte persönlich?

Rojinski: Ich bin überhaupt nicht religiös und fühle mich auch nicht jüdisch. Tatsächlich ist mir erst letztes Jahr so richtig klargeworden, dass ich in Nazi-Deutschland dran gewesen wäre. Auch meine Schwester, meine Mutter und mein Vater, alle. Die Nazis hätten mich ins KZ gesteckt und dann hätte ich versuchen müssen, in Buchenwald oder Sachsenhausen zu überleben. Das ist echt hart, wegen nichts, ich habe nichts getan, aber ich wäre im KZ gelandet.

SPIEGEL ONLINE: Gab es einen Anlass für diese plötzliche Erkenntnis?

Rojinski: Wir waren mit der Familie in Amsterdam und haben auch das Anne-Frank-Haus besucht. Diese Erfahrung, auch wenn man dort in Scharen durchgeschleust wird, war sehr intensiv. Da hat es Klick gemacht. Natürlich hatte ich mich auch vorher schon mit der Zeit auseinandergesetzt, aber das war alles eher theoretisch passiert. In Amsterdam kam das geballte Gefühl. Die Stolpersteine schätze ich jetzt noch viel mehr. Wenn ich an einem vorbeigehe, lese ich kurz den Namen und sage: Wir wissen, dass ihr da wart. Ich habe auch schon mal den einen oder anderen geputzt. Es ist wichtig, dass die Menschlichkeit siegt.