Sibel Kekilli über Alltagsrassismus: "Ich werde ständig gefragt, woher ich komme"

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Als "Tatort"-Polizistin wurde sie einem breiten Publikum bekannt. Vor dem Start der neuen Serie "Bullets" erzählt Sibel Kekilli, welche Vorurteile sie ärgern. Ein Gespräch für SPIEGEL digital.
SPIEGEL digital
01.12.2019
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Sibel Kekilli, Jahrgang 1980, gilt nach ihrem Debüt in "Gegen die Wand" (2004) und ihrer überzeugenden Darstellung in "Die Fremde" (2010) als eine der profiliertesten deutschen Schauspielerinnen ihrer Generation. Von 2010 bis 2017 spielte sie die Kieler "Tatort"-Kommissarin Sarah Brandt. In der HBO-Serie "Game of Thrones" übernahm sie die Rolle der Shae. Für ihr Engagement für Frauen- und Mädchenrechte erhielt sie 2017 das Bundesverdienstkreuz. Ab 3. Dezember ist Kekilli auf RTL-Crime in der deutsch-finnisch-belgischen Thrillerproduktion "Bullets" zu sehen.

SPIEGEL: In der Serie "Bullets" spielen Sie Madina Taburova, eine international gesuchte Terroristin, die Selbstmordattentäter rekrutiert. Haben Sie gezögert, diese Rolle anzunehmen?

Sibel Kekilli: Nein. Mich faszinieren starke, gebrochene Charaktere. Und das habe ich in ihr gesehen. Ich lese ein Drehbuch als Schauspielerin, nicht als Privatperson. Als Mensch verurteile ich die Taten einer Terroristin, aber als Schauspielerin denke ich: Was für eine interessante Gelegenheit, sich dieser Person psychologisch zu nähern. Auch im wahren Leben möchte ich immer wissen, wie ein Mensch tickt und aus welchen Beweggründen er handelt.

SPIEGEL: In der Vergangenheit haben Sie mehrfach gesagt: "Ich will nicht auf die Rolle der Türkin festgelegt werden." Jetzt spielen Sie eine Tschetschenin mit Kopftuch. Sind Ihnen die Angebote heute vielfältig genug?

Kekilli: Ja, bis jetzt hatte ich hier viel Glück mit so unterschiedlichen Filmen und Rollen wie in "Game of Thrones", "What a Man" oder "Winterreise". In bestimmte Schubladen gesteckt zu werden, ist für mich als Schauspielerin problematisch. Und es ist offenbar schwierig, da schnell wieder herauszukommen. Die Rolle der Madina ist in jedem Falle sehr vielfältig.

SPIEGEL: Also verlaufen Castinggespräche heute anders für Sie?

Kekilli: Manche Regisseure und Caster haben sich gar nicht mehr getraut, mir türkische Rollen anzubieten. Dabei habe ich grundsätzlich nichts dagegen, hin und wieder eine Deutsch-Türkin zu spielen. Es kommt immer auf die Geschichten an. Es war mir aber wichtig, klarzumachen: Hey, ich bin keine Türkin, die Rollen verkörpert, sondern eine Schauspielerin, die versucht, verschiedene Rollen glaubhaft darzustellen.

SPIEGEL: Als "Tatort"-Kommissarin Sarah Brandt spielten Sie von 2010 bis 2017 eine urdeutsche Rolle in einer urdeutschen Serie.

Kekilli: Aber ich musste den Medien dennoch jahrelang erklären, warum ich als Kommissarin Sarah Brandt heiße. Eine türkische Ermittlerin zu spielen, sei doch viel interessanter, erklärte man mir. Ich empfinde das als Beleidigung für beide Seiten, für die deutsche Schauspielerin und für die Schauspielerin mit Migrationshintergrund. Das ist Alltagsrassismus.

SPIEGEL: Das heißt, Sie begegnen heute noch immer vielen Vorurteilen, wenn es um die Besetzung spannender Rollen geht?

Kekilli: Ja, die Filmbranche ist ein Spiegel der Gesellschaft. Wenn die Gesellschaft Frauen ab vierzig nicht mehr beachtet, dann kommen sie in Filmen auch nicht mehr vor. Definitiv sind viele deutsche Filme immer noch zu "weiß" besetzt. Regisseure klagen zum Beispiel, dass sie hierzulande aufgrund ihres ausländischen Namens keine Förderung erhalten. Aber diese Kollegen melden sich leider nicht öffentlich zu Wort. Nur so könnte sich etwas ändern. Aber viele haben Angst, dann erst recht keine Aufträge oder Rollen mehr zu bekommen.

SPIEGEL: Sie arbeiten längst in internationalen Produktionen. Sind denn die US-amerikanische oder die finnische Filmbranche weniger von Klischees geprägt?

Kekilli: Am Set von "Game of Thrones" hieß es immer "You are so German!": Vor zehn Jahren hat sich eine finnisch-englische Schauspielerin bei mir beschwert, dass sie in Finnland als englische Schauspielerin und als Ausländerin gesehen wird, obwohl sie dort lebt, Finnisch ohne Akzent spricht und einen finnischen Mann hat. Dieses Problem gibt es überall. In den USA ist man etwas mehr sensibilisiert. Es gab die #MeToo-Debatte und breite Diskussionen über das sogenannte Whitewashing, also die Besetzung nicht weißer Charaktere mit weißen Schauspielerinnen. Man ist vorsichtiger geworden.

SPIEGEL: Als Schauspielerin Halle Bailey jüngst als "Ariel" für eine Disney-Neuverfilmung gecastet wurde, gab es einen Aufschrei im Netz. Eine Meerjungfrau könne nicht schwarz sein.

Kekilli: Wer sagt denn, dass Ariel weiß sein muss? Es handelt sich doch sowieso um ein Märchen.

SPIEGEL: Die USA gelten als Schmelztiegel, in dem sich viele Ethnien integrieren. Trotzdem wird dort jeder dauernd nach der Herkunft gefragt.

Kekilli: Das habe ich nicht so extrem empfunden wie in Deutschland. Hier werde ich tatsächlich ständig gefragt, woher ich komme. Wenn ich dann antworte, ich stamme aus Deutschland, aus dem Schwabenländle, dann will man sofort wissen, wo meine Eltern geboren sind, was meine Muttersprache ist und ob ich wieder zurückgehe in mein Land. Damit ist dann die Türkei gemeint. Das macht mich immer wieder traurig. Man hat mir dadurch oft das Gefühl gegeben, ich sei Gast, und kein willkommener. Ich unterstelle ja auch nicht jedem, der nicht blond und blauäugig ist, dass er kein Deutscher sein kann. In dem Land, in dem ich geboren bin, in dem ich lebe, wähle, Steuern zahle, möchte ich diese Fragen nicht jahrzehntelang beantworten müssen. Ich empfinde diese Fragen als Affront. Auch das ist Alltagsrassismus.

SPIEGEL: Sie haben im Netz viele Hasskommentare erhalten und deshalb vorübergehend ihren Instagram-Account geschlossen. Haben die Angriffe nachgelassen?

Kekilli: Es erreichen mich immer noch viele Beschimpfungen und Drohungen. Unsere Gesellschaft verroht, Höflichkeit und Respekt zählen nicht mehr. Es wird eher schlimmer.

SPIEGEL: Was muss sich ändern?

Kekilli: Die Rechtsprechung muss mehr Schutz bieten. Die sozialen Medien brauchen ein Korsett. Mobbing und Stalking müssen bestraft werden, und zwar nicht erst, wenn schon jemand zu Schaden gekommen ist.

SPIEGEL: Trotzdem sind Sie selbst in den sozialen Netzwerken präsent?

Kekilli: : Ob ich einen Instagram-Account habe oder nicht, möchte ich nicht von diesen Menschen und ihren Beschimpfungen abhängig machen. Aber manchmal frage ich mich, warum ich mich mit solchen Kommentaren überhaupt beschäftigen muss. Das ist Selbstvergiftung.

SPIEGEL: Sie halten mit Ihrer politischen Meinung nicht hinter dem Berg. Raten andere Ihnen, sich zurückzunehmen?

Kekilli: Immer wieder. Ich solle mich nicht zu sehr gegen Ehrenmorde und für Frauenrechte engagieren, dann würde ich nicht als Schauspielerin wahrgenommen, hieß es mal. Andere meinen, ich solle mich auf keinen Fall zu politischen Fragen äußern. Aber ich habe eine Stimme und die werde ich nutzen, um mich für bestimmte Dinge zu engagieren, die mir wichtig sind.