Botschafterin zwischen den Kulturen

Ein Treffen mit Sonja Lahnstein-Kandel, deren eigene Lebensgeschichte ihr Wirken maßgeblich mitbestimmt.
DIE WELT
18.07.2015
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Im schlichten schwarzen Kleid, die kleine Nadel des Bundesverdienstkreuzes am Kragen, steht sie im hinteren Teil des Raumes, wartet auf ihren Auftritt. Fünf Zigaretten habe sie morgens geraucht, gesteht sie, sonst höchstens eine pro Tag. Sie war eben aufgeregt.

Davon bemerke ich wenig, als sie nach vorn geht, um mit ihrem Vortrag zu beginnen, nicht mal, als sie fast hinter dem massiven Mahagonirednerpult verschwindet. „Ich habe vergessen, um einen Hocker zu bitten“, entschuldigt sie sich. Der Saal lacht, wohlwollend, ihr Charme springt sofort über und natürlich eilt alsbald jemand mit einem Höckerchen herbei.
Rund 100 Interessierte sind gekommen, um zu hören, was Sonja Lahnstein-Kandel über Multikulturalität in Israel zu sagen hat. Gleich zu Beginn attestiert sie uns, „dass Deutschland mit der Zeit in Sachen Erinnerung und Gewissenserforschung vorbildlich geworden ist – sogar weltweit vorbildlich“.

Sie ist stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Universität von Haifa, der drittgrößten Stadt Israels in der Nähe des Berges Karmel. Kein anderer Ort weltweit, an dem Juden und Araber sich täglich in dieser Breite begegnen.

Es ist angenehm, ihr zuzuhören. Sonja Lahnstein-Kandel spricht bescheiden, aber entschieden, zart, aber stark und lebendig. Sie verliert sich nicht in abstrakten Formeln. Ihr Ton bleibt ausgleichend, nicht herausfordernd, selbst als sie sich fragt, „warum hierzulande so oft der Zorn ausgerechnet auf den einzigen freien und demokratischen Staat in der Region gerichtet wird“.

Israel meint sie natürlich und will, als wir uns später unterhalten, nicht gelten lassen, dass der Zorn auch Ausdruck der Verbundenheit sein könnte. Freunde geht man leider oft härter an, werfe ich ein, oder? Das sei aber „nicht logisch und wie eine verkehrte Welt“, findet sie, auch im Hinblick auf die USA: „Die Kritik ist vehement, aber das Gute wird als selbstverständlich genommen. Das kann verheerende Folgen haben.“

Ihre persönliche Lebensgeschichte prädestiniert Sonja Lahnstein-Kandel zur Botschafterin zwischen den Kulturen. 1950 in Zagreb geboren, 1966 als Jugendliche mit den Eltern nach Deutschland eingewandert. Die Eltern und Großeltern: kroatische Juden, die den Nazis und der faschistischen Ustascha entfliehen konnten. Ihr Vater: ein anerkannter Chirurg, der im Partisanenkrieg gegen die Faschisten schon nach zwei, drei Semestern Medizinstudium Beine amputierte und dann schrecklich enttäuscht wurde vom Korruptions- und Machtgehabe der sozialistischen Parteifunktionäre. Er suchte in Hamburg eine neue Existenz.

„Mit nichts sind wir nach Hamburg gekommen“, erzählt mir Sonja Lahnstein-Kandel, „mit nichts.“ Sie formt mit den Händen ein kleines Schatzkästchen. „Mehr ist mir aus meiner Kindheit nicht geblieben.“

Sonja, 16 Jahre alt, klammerte sich damals an eine Hoffnung: In Hamburg ist das Meer. „Aber hier war gar nicht das Meer! Es war schrecklich. Eine große Enttäuschung. Und als ich dann endlich an die Ostsee gekommen bin, war das für mich kein Meer, das war nur etwas Graues.“ Blaue Wellen, die an eine Felsenküste schlagen, hatte sie sich vorgestellt.

Hamburg zeigt sich ihr damals als „komplett verschlossen“. Immerhin hat sie so gelernt, über den eigenen Schatten zu springen und eine gewisse Schüchternheit abzulegen. „Denn abwarten, bis andere Menschen auf einen zukommen, das funktionierte nicht.“

Heute ist sie mittendrin im Hamburger Leben, oft der Mittelpunkt der Diskussion. Häufig betonten die Leute, das fällt ihr unangenehm auf, dass „man doch Israel auch mal kritisieren dürfe …“ Das würde man bei keinem anderen Land voranstellen, meint sie.

Diese „nicht ehrlich gemeinten Präambeln“ sind ihr suspekt. Ebenso wie das Bedürfnis an vielen Dinnertafeln, ein Unrecht mit dem anderen zu vergleichen. „Was in Israel passiert, ist mindestens so schlimm, wie es damals bei uns war“, hört sie immer wieder und diese Aussage hat für sie einen „antisemitischen Anflug“. „Bei so einem Vergleich kommt nie etwas Gutes heraus!“

Und egal, wie eine Debatte um Terrorismus im Mittleren Osten verlaufe, am Ende komme immer die gleiche Frage: „Was ist mit der israelischen Siedlungspolitik? Als ob irgendein vernünftiger Mensch daraus den islamfundamentalistischen Terrorismus ableiten könnte.“

Was und wie dürfen wir Deutsche mit unserer historischen Schuld aussprechen, kritisieren, ohne Salz in offene Wunden zu streuen? Sind solche Diskussionsvorgaben überhaupt gut für eine Demokratie? Sie ist die Richtige, um darüber zu sprechen, aber jetzt möchte ich mehr über ihr Leben erfahren.

Hamburg ist ihre Heimatstadt, aber nicht die einzige. Da bleiben noch Zagreb und auch Washington D. C., wo sie lange Jahre für den Internationalen Währungsfond und die Weltbank tätig war. Kaum hatte sie mit 24 ihr Diplom als Volkswirtin in der Tasche, wurde sie dort angenommen. „Das war ein bisschen Massel und Chuzpe“, freut sie sich noch heute.

Jahrelang bereist sie asiatische Länder, vor allem die ärmsten, darunter Nepal, Bangladesch, Pakistan, entwickelt und betreut wirtschaftliche Projekte, überwacht die Verwendung von Strukturkrediten, zu einer Zeit, wo das Thema Nachhaltigkeit erst noch erfunden werden muss.

Heute werde schnell gesagt, die Menschen in relativ unberührten Gebieten sollten möglichst ursprünglich weiterleben, stellt sie fest. „Aber wenn es eine hohe Kindersterblichkeit gibt und die lebensnotwendige Infrastruktur fehlt, dann kann man nicht einfach sagen: Die lassen wir halt so leben, wie sie sind!“

Ihr Büro erzählt von Reisen und den Projekten ihres Lebens in aller Welt, hier atmet man sofort kosmopolitische Luft. Von überall hat sie Erinnerungen mitgebracht, als wolle sie sich dafür entschädigen, dass ihr aus der kroatischen Kindheit nur so wenig geblieben ist. Auf dem Schreibtisch Tonfiguren aus Ghana, japanische Porzellanpuppen vor einer langen Reihe Leitzordner und natürlich Bücher über Bücher, viele dicke Kunstkataloge, das alles zwischen japanischen Wänden aus Shoji-Papier in filigranen Holzrahmen.

Die Liebe für das Asiatische, besonders das Japanische, teilt sie mit ihrem Mann, Professor Manfred Lahnstein, Unternehmensberater und Bundesminister a. D. unter Helmut Schmidt. Das war 1982. Da hatten Sonja und Manfred gerade beschlossen, gemeinsam durchs Leben zu gehen. Nach langen Jahren in Washington kam sie seinetwegen nach Deutschland zurück.

„Der letzte Sommer der sozialliberalen Koalition. Es war schrecklich, alles nur intrigenhaft, an die 40 Grad in Bonn und kein air conditioning.“

Das war bestimmt eine harte Zeit, auch politisch gesehen, merke ich an. Aber sie denkt nicht als Erstes an die Politik. „Vor allen Dingen hart fand ich“, die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen, „dass ich plötzlich ein Niemand war. Alles drehte sich um ihn und ich war plötzlich eine Geliebte, die hatte eine türkise Bluse und ’ne weiße Hose an. Mehr nicht! Das werde ich nie vergessen. Ich hatte nicht einmal einen Namen. Herr Lahnstein führte seine neue Geliebte aus, wie einen Hund, der hat ein schönes Fell. Das war für mich sehr, sehr schwer.“

Kaum vorzustellen, wie jemand nicht neugierig genug sein kann, ihren Namen zu erfahren. Sonja Lahnstein-Kandel. 2004 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz verliehen für die Gründung und Arbeit der Initiative step21. Deren Medienboxen zum Thema Toleranz und Rassismus werden mittlerweile von 20.000 Schulen genutzt.

Toleranz und Koexistenz, das sind die Schlüsselwörter ihres Lebens. Sie organisiert Kunstauktionen im großen Maßstab, um ein künstlerisches Programm des Israel-Museums in Jerusalem zu unterstützen, das jüdische und arabische Jugendliche zusammenbringt. Sagenhafte 350.000 Euro hat die letzte Versteigerung eingebracht. Das Projekt heißt Bridging the Gap. Brücken bauen – ihr Lebensmotto.

„Ach ja“, sagt sie, „und nebenbei arbeite ich ja auch noch.“ Das wäre jetzt fast nicht zur Sprache gekommen.

Sonja Lahnstein-Kandel ist Unternehmensberaterin, gemeinsam mit ihrem Mann. „Klappt das?“, möchte ich wissen. „Am Ende funktioniert es gut, obwohl wir beide recht dickköpfig sind.“

So wirkt sie gar nicht auf mich. Aber eine wie sie, das habe ich sofort gemerkt, braucht eigentlich gar keinen Hocker, um gesehen zu werden und sich Gehör zu verschaffen.