Die Strandfrau vom Kiez

Die Hitze treibt ihr Geschäft an: Claudia Hauswedell-Glaser betreibt den Beachclub Strandpauli. Dabei sollte das nur ein Hobby sein
DIE WELT
04.07.2015
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Alles hier ist schief und krumm, die Sonnenschirme aus geflochtenem Bast und die orange-gestreiften Stehlampen. Vor der Photobox hängt ein zerrissener Jutesack, die Bambusmatten auf dem Dach der Bar hat der Wind durcheinander geweht. Der Bildschirm ihres Handys ist zersplittert. „Das macht nix“, stellt Claudia Hauswedell-Glaser gelassen fest, während sie an einem der robusten Holztische im Beachclub Strandpauli ihre pinkfarbene Lesebrille aufsetzt, um nach einer Telefonnummer zu suchen.

Sie ist die Chefin von 140 Leuten, die den gekonnt schäbig-schräg eingerichteten Laden jede Saison wieder zum Brummen bringen. Gemeinsam mit ihrem Bruder und einem dritten Gesellschafter hat sie den Beachclub 2004 gegründet. Da waren ihre Zwillinge, zwei Mädchen, noch nicht einmal zwei und die ältere Tochter sieben Jahre alt.

„Fragen Sie mich nicht, wieso ich dazu kam, obwohl die Zwillinge da waren. Es sollte eigentlich nur ein Hobby-Projekt sein, das wir neben unseren Berufen betreiben wollten.“

Dafür sieht es jetzt ziemlich professionell aus, finde ich. „Wenn ich nur einmal in meinem Hinterkopf gehabt hätte, was dieses Projekt mit sich bringt, dann hätte ich gesagt: Ey, das kann jeder andere machen, aber ich nicht! Ich wollte eigentlich nur die Gastgeberin sein.“

Wir sitzen an einem der abgeschabten Holztische auf eher unbequemen Stühlen und beobachten, wie ein Mitarbeiter einen halben ausgeschlachteten Mercedes hingebungsvoll mit goldener Farbe besprüht.

An die zweitausend Menschen, die an einem sonnigen Wochenende auf breiten Polstern oder in Strandsesseln den Blick auf Kreuzfahrt- und Containerschiffe genießen, können froh sein, dass Claudia Hauswedell-Glaser erst handelt und dann denkt: „Ich glaube, nichts von dem, was ich in meinem Leben gemacht habe, hätte ich angefangen, wenn ich in Ruhe darüber nachgedacht hätte. Dann hätte ich Respekt vor der Sache bekommen und gedacht: Das kann ich nicht, das schaffe ich nicht.“

Spontan handelt sie, immer aus dem Bauch heraus und im Zustand der Euphorie. „Meine spinnerten Ideen, die hab ich bestimmt von meiner Mutter, die war auf liebenswürdige Weise verrückt.“

Eine ihrer „spinnerten Ideen“ hat Claudias Mutter, Erika Riemann, teuer bezahlt.

1945. Erika Riemann ist 14 Jahre alt. Das Hitlerbild in ihrer Schule im thüringischen Mühlhausen wurde durch ein Stalin-Porträt ersetzt. Erika nimmt einen Stift und verziert Stalins Schnauzbart mit einer Schleife. Für diesen kindlichen Streich steckt man sie in Lager und Zuchthäuser, u.a. ins ehemalige KZ Sachsenhausen. Als sie 1954 entlassen wird, ist sie 23 und hat keine Jugend gehabt.

„Meiner Mutter fehlte so viel. Wenn ich in der Pubertät war, war sie mit in der Pubertät. Sie hat nicht gemerkt, dass sie gestört hat. Sie wollte dabei sein, weil sie das alles nicht hatte.“

Hat sie mit der Mutter über die Erfahrungen in der Haft gesprochen, frage ich. „Nein. Als Kind möchte man nicht wissen, was für schlimme Sachen die Mutter erlebt hat. Ich hatte auch Angst, dass ich noch Schlimmeres hören würde, als ich später erfahren habe. Eigentlich wollte niemand mit ihr über diese Zeit reden.“
Deshalb hat Erika Riemann ein Buch geschrieben: „Die Schleife an Stalins Bart“. Es wurde 2004 ein Bestseller.

Claudia wollte es zunächst nicht lesen. Warum nicht? Sie kann es nicht genau erklären. Erst ein Jahr nach dem Erscheinen traut sie sich. „Da habe ich mir gesagt, ich muss es jetzt lesen, denn ich wurde permanent darauf angesprochen. Ich war unglaublich gerührt und angetan. Ich hatte immer die Befürchtung zu lesen, dass sie vergewaltigt wurde, aber das ist nicht passiert. Erstaunlicherweise.“

Die Bedienung bringt Tee und Claudia Hauswedell-Glaser blickt leicht konsterniert auf den Teebeutel im Papiertäschchen. „Wo ist denn der extra ausgesuchte gute Tee in den Stoffsäckchen?“ fragt sie freundlich aber stirnrunzelnd und erteilt dann eine kleine Teekunde-Lektion. Darin kennt sie sich aus. Ihr Vater war gelernter Teekaufmann, später wurde er Anwalt. Kopfschüttelnd nimmt sie zur Kenntnis, dass ich auf die künstlichen Aromen des 08/15-Tees hereinfalle, weil ich ihn (mit schlechtem Gewissen natürlich) bevorzuge.

In der Hamburger Praxis ihres Vaters hat Claudia eine Lehre zur Anwaltsgehilfin absolviert, bevor sie Betriebswirtschaft studierte, Schwerpunkte Marketing und Personalwesen. Sie ist eine waschechte Hamburgerin: 1961 hier geboren, später fünf Jahre in Wuppertal und nach dem Abi sofort wieder zurück in die Hansestadt.
Hierarchie wird im Strandpauli kleingeschrieben. Natürlich nennen sich alle hier beim Vornamen. Wenn Not am Mann ist, stehen auch die Barleute – oder Claudia selbst, und zwar gerne – einen halben Tag lang an der Spüle oder in der Küche.

„Wir haben zwischendurch mit Profis gearbeitet, die an klare Rangordnung gewohnt waren. Mit denen konnte Strandpauli nichts anfangen.“ Ein guter Koch gab, wie er es aus seinen Sterne-Küchen gewohnt war, klare Anweisungen von oben herab. „Er ist hier so aufgelaufen, da machte niemand etwas. Und er wusste nicht, wie er reagieren sollte.“

Dabei ist sie selbst durchaus nicht zimperlich, wenn es um klare Ansagen geht. Aber immer auf Augenhöhe. Auch etwas, das sie von früher kennt: den offenen Umgang mit Menschen unterschiedlicher Couleur. Der Tankwart, der Briefträger oder auch mal James Last – sie alle waren gleichermaßen gern gesehene Gäste bei ihrer Mutter Erika Riemann.

„Achtung, da kommt Muddi!“ warnen sich die Strandpauli-Mitarbeiter manchmal gegenseitig. Denn „Muddi“ kann auch böse werden. „Ich bin sehr impulsiv. Wenn mir etwas gegen den Strich läuft, dann lasse ich das direkt ‘raus, danach ist es sofort wieder weg. Deshalb trage ich nicht viel Langzeitstress mit mir. Ich entschuldige mich auch, wenn es ungerecht war. Da schäme ich mich nicht.“

„Das tut sie, auch wenn’s nicht immer leicht fällt!“ bestätigt ihr Mann, Uli Glaser, Schmuckdesigner mit einem Atelier im Industrie-Loft-Stil in Bahrenfeld, dessen Gestaltung im wesentlichen Claudia übernommen hat. Sie gestaltet mit Begeisterung. Eigentlich wollte sie mal Innenarchitektin werden.
„Aber das Geschäft mit den Zahlen habe ich nun mal gelernt. Und deshalb haut mir jeder seine Zahlen auf den Tisch und sagt: Mach mal!“ Und so ist sie auch die Betriebswirtin des Schmuck-Ateliers.

Uli und Claudia – eine Teenager-Liebe, er aus dem Osten, sie aus dem Westen. 1978 beide auf Urlaub in Ungarn. Es folgen acht Jahre konspirativer Liebe unter den Augen der Stasi. „Meine Mutter ist tausend Tode gestorben, wenn ich wieder ‘rübergefahren bin, unter Decknamen, mit Ablenkungsmanövern.“ Eine Weile geht es gut. Dann wird sie, 18 Jahre alt, in Ostberlin festgenommen und stundenlang verhört; Uli, 20, gerade beim Militär, wird unehrenhaft entlassen und für ein halbes Jahr strafversetzt in den Bergbau. Bis er da raus ist, hört Claudia nichts von ihm.

Ganz überraschend wird am 24. Dezember 1986 die Ehe genehmigt, wenige Tage später ist sie verheiratet. „Ich kriege jetzt noch Gänsehaut, wenn ich davon erzähle.“

Ihr Leben, eine Abfolge von Hauruck-Aktionen. Kürzlich haben sie das über 100 Jahre alte Juweliergeschäft der Familie Glaser in Erfurt in ein modernes Schmuck-Studio verwandelt. Wieder ohne lange Planung? „Das Hü und Hott reichte mir. Ich habe einfach in der Nacht die Spitzhacke genommen und eine Wand durchbrochen.“ Und damit war klar, wo es lang ging! „Ich überrolle viele Menschen, das weiß ich, Uli hatte keine Chance. Meine spontanen Aktionen sind eine anstrengende Geschichte. Für den einen ist das positiv, für den anderen unheimlicher Stress.“

Auch in der Strandpauli-Küche haben sie gestern mal eben eine Wand eingerissen. „Die Claudia weiß genau, was sie will und bringt das mit Humor rüber“, erklärt mir die neue Küchen-Chefin, die schon nach zehn Tagen ahnt, wo im Strandpauli der Hammer hängt: „Das klingt dann locker, aber es gibt keinen Widerspruch.“
Und trotzdem, Claudia Hauswedell-Glaser ist bei ihren Leuten echt beliebt, das spüre ich bei jedem Mitarbeiter, der uns begegnet. Wenn das Familiengeschäft in Erfurt endgültig auf Zack gebracht ist und Strandpauli im Sommer brummt, dann sucht sie sich bestimmt wieder ein neues Projekt – und eine Spitzhacke.