Schauspieler Ulrich Noethen: "Das Potenzial zur Gewalt ist in jedem von uns vorhanden"

Zur Person
Der Schauspieler Ulrich Noethen, Jahrgang 1959, ist aktuell in der Neuverfilmung des Romans "Deutschstunde" von Siegfried Lenz zu sehen. In München geboren, wuchs er als jüngstes von fünf Kindern einer Pfarrfamilie auf. Er hat eine 25-jährige Tochter aus erster Ehe sowie eine 6-jährige Tochter mit seiner Lebensgefährtin, der Schriftstellerin Alina Bronsky. Bronsky brachte darüber hinaus drei Kinder, die heute zwischen 14 und 20 Jahre alt sind, mit in die Beziehung.
SPIEGEL: Herr Noethen, Sie spielen in "Deutschstunde" einen Dorfpolizisten zur Zeit des Nationalsozialismus, der sich durch nichts von seiner Pflichterfüllung abbringen lässt. Er liefert sogar seinen desertierten Sohn an die Nazis aus. Haben die Nazis den Begriff der Pflicht für immer diskreditiert?
Noethen: Das sehe ich nicht so. Pflicht ist erst einmal nur ein Gefäß. Und es kommt auf den Inhalt an. Ich finde es heutzutage besonders wichtig, Verantwortung zu übernehmen. Viele Menschen - und ich schließe mich da nicht aus - legen sich nur ungern fest. Vorgaben und Regeln lösen sich auf. Hauptsache wir haben Spaß. Verpflichtungen, die man sich selbst oder anderen gegenüber eingeht, sind deshalb notwendig.
SPIEGEL: Ist Ihr eigener Alltag sehr von Pflichten bestimmt?
Noethen: Kommt darauf an, was Sie unter Pflicht verstehen. Wenn es um die Familie geht, gibt es Verabredungen, die meinen Alltag bestimmen. Pflicht hat ja diese negative Konnotation von Zwang. Wenn es mir aber gelingt, die Notwendigkeit und die Sinnhaftigkeit einer Pflicht zu erkennen, dann kann ich auch Freude daran haben.
SPIEGEL: Ihnen würde also etwas einfallen, wenn Sie - wie Siggi im Film - die Aufgabe bekämen, einen Aufsatz zum Thema "Die Freuden der Pflicht" zu verfassen?
Noethen: 'Freuden der Pflicht' ist bei Lenz natürlich ein Sarkasmus. Dem Dorfpolizisten Jens Ole Jepsen wird man nicht unterstellen können, dass er bei seiner Pflichterfüllung wahnsinnig viel Spaß gehabt hat.
SPIEGEL: Welche Rolle spielt Pflichtbewusstsein bei der Erziehung Ihrer Kinder?
Noethen: Ich habe Verantwortung für die Kinder - und die Kinder sollen auch irgendwann Verantwortung übernehmen. Das will ich ihnen beibringen. Wenn ihnen beispielsweise die Küche zur Verfügung gestellt wird, damit sie ein neues Kuchenrezept ausprobieren können, dann erwächst daraus die Verpflichtung, die Küche am Ende wieder in ihren Ursprungszustand zurückzuversetzen. 'Bitte hinterlassen Sie diesen Ort so, wie Sie ihn selbst vorzufinden wünschen!' Das gilt auch im globalen Maßstab. Solche Sachen versuche ich, den Kindern beizubringen.
SPIEGEL: Klappt das?
Noethen: Mehr oder weniger, wir sind eine ganz normale Familie.
SPIEGEL: Was hat Ihre Filmfigur Ole Jepsen dazu gebracht, in seinem Pflichtbewusstsein so starr, geradezu brutal zu sein?
Noethen: Ich weiß es nicht. Weil ihm niemand den Mut zum Nachdenken beigebracht hat? Weil Pflicht für ihn nicht in Frage gestellt werden darf? Weil er ein Angstbeißer ist, der sich bedroht fühlt?
SPIEGEL: Als Jens Ole Jepsen verprügeln Sie Ihren zehnjährigen Sohn Siggi ausgiebig mit einem durch die Luft zischenden Rohrstock. Das Gefühl von Demütigung und Schmerz geht unter die Haut. Was empfanden Sie, als Sie die Szene spielten?
Noethen: Das entfaltet seine psychologische Wucht bei mir erst hinterher. Zunächst mache ich es für mich zu einem technischen Vorgang: Ich frage mich, wie ich die Vorgabe des Drehbuchs so umzusetzen kann, dass keiner der Beteiligten zu Schaden kommt. So eine Szene wird ja mehrmals aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufgenommen, in vielen Einstellungen ist das Kind gar nicht physisch anwesend, sondern ein Dummy, ein Lederkissen wird geschlagen. Erst im Schnitt ergibt sich das ganze Bild. Das sind Drehtage, an denen man sich später beglückwünscht, dass es eine klare Trennung gibt zwischen dem gespielten und dem eigenen Ich. Aber das Potenzial zur Gewalt ist in jedem von uns vorhanden.
SPIEGEL: Ihr Gegenspieler, der Maler Max Ludwig Nansen, ist dem Expressionisten Emil Nolde nachempfunden. Ausgerechnet jetzt, im Erscheinungsjahr des Films, wird intensiv darüber diskutiert, dass Nolde nicht nur ein von den Nazis unterdrückter Maler war, sondern gleichzeitig Antisemit und Hitler-Verehrer. Spielte das während der Dreharbeiten eine Rolle?
Noethen: Wir haben darüber gesprochen, aber wir wollten die starke Parabel in Lenz' Roman nicht durch einen Kommentar zu der Debatte um Nolde überdecken lassen. Schon Siegfried Lenz wollte nicht Emil Nolde beschreiben, er wusste auch nicht so viel über ihn, wie wir es heute tun. In der Rezeption hinterher wollte man dann allerdings Nolde in seiner Romanfigur erkennen. Die Figur des Malers im Film unterscheidet sich obendrein von der Romanfigur, sie ist weniger glänzend.
SPIEGEL: Wenn Sie ein Gemälde von Nolde besitzen würden...
Noethen: ... würde ich es Zuhause aufhängen. Mich beeindrucken viele dieser Bilder in ihrer Farbigkeit, in ihrer Plastizität, in ihrer Kraft. Wobei für mich viele Fragen dazu kommen: War es richtig, den Nolde im Kanzleramt abzuhängen? Ist ein Kunstwerk kein Kunstwerk mehr, weil es ein Nazi gemalt hat? Und warum genau ist es dann weniger wert, in des Wortes doppelter Bedeutung? Wir hatten Pressetag in München. Da steht vor dem "Bayerischen Hof" ein inoffizielles Michael-Jackson-Denkmal, wo Fans Devotionalien ablegen. Ist seine Musik nach den Missbrauchsvorwürfen wertlos?
SPIEGEL: Haben Sie eine Antwort darauf?
Noethen: Ja. Nolde hat tolle Bilder gemalt. Und er hat sich als ein mieser Nazi entpuppt. Ich kann es aushalten, mit Widersprüchen zu leben.
SPIEGEL: Sie verkörpern häufig Figuren aus der Zeit des Nationalsozialismus...
Noethen: Das mag öfter vorgekommen sein, aber viele Figuren, die ich gespielt habe, haben damit überhaupt nichts zu tun. Eine Zeit lang hat man mich fast ausschließlich mit Kinderfilmen in Verbindung gebracht.
SPIEGEL: Man kennt Sie unter anderem als Professor Sauerbruch aus der Fernsehserie "Charité", als Kriegsheimkehrer, als Anne Franks Vater oder Heinrich Himmler. Ihr Vater, geboren 1920, war Wehrmachtsoffizier und wurde später Pfarrer. Verarbeiten Sie in diesen Rollen auch Ihre Familiengeschichte?
Noethen: Der Vater meines Vaters war Kirchenrat in der lutherischen St. Lukas-Kirche in München. Die Gestapo hat seine Gottesdienste überwacht. Mein Vater war in der Jugendgruppe der Gemeinde. Nach der Gleichschaltung fand er sich in der Hitlerjugend wieder. Dann Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht, später Gefangenschaft. Nach dem Krieg hat er Theologie studiert. Diese Widersprüche, in denen mein Vater stand, zwischen christlicher Botschaft und Nationalsozialismus, zwischen Bergpredigt und Vernichtungskrieg, beschäftigen mich noch immer. Ich würde nicht sagen, dass ich durch diese Rollen meine Familiengeschichte aufarbeite, aber sie helfen mir, meinen Vater und seine Generation besser zu verstehen. Und es ist von Vorteil, jemanden zu haben, mit dem man darüber sprechen kann.